fachsprachlich vorgefundener oder konstruierter sinnstiftender Zusammenhang zwischen einer Folge von Ereignissen oder Sachverhalten (meist mit einem bestimmten Ziel verbreitet, wie der Integration einer Gruppe, der Legitimation eines bestimmten Verhaltens, der Schaffung eines bestimmten Selbstbildes o. Ä.)
Beispiele:
In den USA gilt noch immer das Narrativ, dass
man es vom Tellerwäscher zum Millionär schaffen kann. [Welt am Sonntag, 20.10.2019]
Solche Meistererzählungen steuern, wie wir die Welt sehen und uns
verhalten. Der »amerikanische Traum« und der »Wettlauf zum Mond« sind solche
Narrative; oder die »Europäische Union« als
friedensstiftende Erfindung, ohne die dieser Kontinent wieder in Kriegen
versinken würde. Es sind Rechtfertigungen für unser Handeln und die Politik.
Das Narrativ von der Sonne, die keine Rechnung
schickt, bewirkt, dass wir gerne jene Kosten tragen, die Solarmodule und
deren Entsorgung mit sich bringen. Den Wahrheitsgehalt von
Narrativen können wir schwer
nachprüfen. [Südkurier, 19.12.2018]
Die Narrative, die uns früher Orientierung
gaben, weil sie uns nicht nur zeigten, wo wir herkamen, sondern auch
zeigten, wo wir hinwollten, sind weg oder erscheinen nicht mehr
glaubwürdig. [Die Welt, 15.12.2018]
Dazu [für ein psychologisches Experiment] waren die Probanden aufgefordert, sich
künftige Ereignisse auszumalen, etwa den Besuch eines Theaterstücks. Später
legten die Forscher ausformulierte Narrative vor, wie
die imaginierten Erlebnisse tatsächlich ausgefallen waren, und überprüften
nochmals später die Erinnerungen der Probanden an diese Geschichten. Während
Vorfreude spätere Erinnerungen zum Besseren verzerrte, hatten negative
Erwartungen keine Auswirkung auf die emotionale Färbung der Rückschau. [Süddeutsche Zeitung, 17.04.2018]
Der [südafrikanische] Präsident nimmt
die Welt durch ein besonderes Narrativ wahr: das der
afrikanischen Wiedergeburt. Wenn er auf eine Handlung trifft, die dazu nicht
passt – die Aids‑Pandemie, der Zusammenbruch von Simbabwe, die Korruption
bei der Polizei in Südafrika –, dann leugnet er einfach, dass es sie
gibt. [Süddeutsche Zeitung, 03.07.2008]
Die starke Form des Perspektivismus aber ist eine epistemologische
Provokation sondergleichen, antirealistisch, antiaufklärerisch.
[…] In der stärksten
Form läßt er die Erkenntnisse der aktuellen Wissenschaften zu einer
kulturbedingten sprachlichen Repräsentation schrumpfen, einem bloßen
»Narrativ«, das sich wie ein literarisches Werk
analysieren (»dekonstruieren«) läßt. [Die Zeit, 04.06.1998]
»Auschwitz«, schreibt der Historiker Dan Diner »hat eine Statistik,
aber kein Narrativ.« Deshalb[…] hänge sich die jüdische
Erinnerung oft an den Aufstand im Warschauer Ghetto, eine Geschichte, die
einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat. Es ist eine Geschichte die eine
epische und eine teleologische Struktur hat, der Erzählung eine Richtung und
der Erfahrung einen Sinn gibt, den sie der Massenvernichtung nicht
abzuringen vermag. Jede Gruppe braucht zu ihrer Konstituierung ein solches
Narrativ[…]:
[…]. [die tageszeitung, 07.03.1995]
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allgemeiner, häufig abwertend konventioneller, zwischen einer Reihe von Ereignissen oder Sachverhalten Sinn stiftender, begründender Rahmen, Zusammenhang; (ein bestimmtes Bild, Verhalten schaffende oder legitimierende) Vorstellung, Darstellung, Behauptung, Theorie, Geschichte
Ohne klare Grenze zur Hauptlesart. In politischen, gesellschaftlichen
o. ä. Diskursen häufig, um entweder andere Überzeugungen oder
Darstellungen zu relativieren und sie als artifiziell und willkürlich, als bloße
Fiktion zu charakterisieren, oder um eigenen (manipulativen) Darstellungen
Überzeugungskraft zu verleihen.
Beispiele:
Das Konzept einer Nation ist im Grunde nichts anderes als ein
Narrativ. Es ist gar nicht objektiv klar, was
eine Nation ist. [Die Welt, 26.01.2018]
[Der US-amerikanische Präsidentschaftskandidat] McCain braucht eine
Geschichte, ein Narrativ, mit dem er erklärt, wie
er Amerika zurück auf den Pfad der Tugend führen wird. [Die Zeit, 07.10.2008]
Moralisten sind […] Meister
darin, politisch umstrittene Gegenwartsprobleme in moralische
Gewissensfragen umzudeuten. Sie beherrschen virtuos das
Narrativ von moralisch korrumpierten, bösen
Menschen, die aus schierer Selbstsucht das Klima, den Planeten, die
Menschheit schädigen. Mal sind es die Banken, mal die Spekulanten, mal
die »Konzerne«, ein Böser findet sich immer. [Neue Zürcher Zeitung, 05.01.2021]
Narrative[…] führen ein Eigenleben, ähnlich die Epidemien:
Sie sind plötzlich da, breiten sich aus und verschwinden irgendwann
wieder. Und sie können immensen Schaden anrichten, wenn sie eine falsche
Wirtschaftspolitik begründen. Ein Beispiel ist das
Narrativ von den Maschinen, die uns die
Arbeit wegnehmen. Es taucht seit fast zwei Jahrhunderten immer wieder
auf. [Süddeutsche Zeitung, 06.12.2019]
Das Wohlfühlnarrativ des Gründungsdirektors
[des Jüdischen Museums] schmeichelte
der nach Absolution lechzenden politischen Klasse, das verlogene
Narrativ von der »gemeinsamen
Minderheitenerfahrung« von Juden und Muslimen biederte sich bei den
Migrantenfunktionären an. Die jüdische Erfahrung aber war, ist und
bleibt singulär, nicht nur wegen des Holocausts. [Die Welt, 19.06.2019]
Ich muss lügen. Jeden Tag, an dem ich als Journalistin unterwegs
bin. Unser Team erfindet [zur Tarnung in der Türkei] vor jedem Dreh ein halbwegs plausibles,
unverfängliches Narrativ, wovon unsere Geschichte
heute gerade handelt. Meistens drehen wir einen Beitrag zum Thema
Tourismus. [Unter der Tarnkappe in der Türkei, 06.07.2017, aufgerufen am 01.09.2020]
Glaubt man dem offiziellen Narrativ der
US‑Regierung, so handelt es sich bei Drohnen um Waffen von höchster
chirurgischer Präzision, die nur das treffen, was sie treffen sollen,
wobei das getroffen werden soll, was vorher als terroristischer Feind
ausgemacht worden ist. [Süddeutsche Zeitung, 17.10.2012]
Ein Forscherteam an der University of California hat
herausgefunden, dass es den Käufern in Amerika nicht um Verbrauch,
sondern um »Identität« geht. Diese Leute wollten ein besonderes
»Narrativ« um sich herum stricken, »als
Menschen gesehen werden, denen die Umwelt wichtig ist«. [Die Zeit, 26.10.2006]
Im Video wird der
Narrativ vom bescheidenen Stürmer
nachgezeichnet, der »bei Null gestartet« und trotzdem ganz oben
angekommen ist. [Anthony Modeste? »Sein Leben verdient einen Song«, 10.04.2017, aufgerufen am 17.03.2021] ungewöhnl. Genus