Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute.

Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (¹DWB)

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entstehen

entstehen,
goth. andstandan, ahd. instantan (Graff 6, 601), mhd. enstân, entstân, nnl. ontstaan, mit sehr abweichenden bedeutungen.
1)
die uralte gothische von widerstehen, entgegenstehen scheint noch spät einmal bei Fleming 106 (109) aufzutauchen:
wer wil wol dermaleins uns alte jungen küssen?
uns kluge thoren ehrn? freund (alle ausg. freud) auf, und lasz uns gehn,
auf, es ist hohe zeit dem übel zu entstehn,
wo freilich das obstare, resistere an ein deesse grenzt, denn wer dem übel widersteht, entgegentritt, steht auch von ihm ab, ermangelt ihm, steht ihm nicht zur seite.
2)
so wäre dann ein übergang gebahnt in den sinn von mangeln und entgehen, welches letztere ebenso aus gehen, wie entstehen aus stehen erwächst. nur pflegt sich das subject meistens umzudrehen, statt dessen, der einem entsteht oder entgeht, heiszt es dasz einem etwas entstehe, abstehe, fern stehe, mangle. diese privativbedeutung von entstehen = fehlen, mangeln, gebrechen war, soviel wir wissen, weder ahd. noch strengmhd., erscheint aber bei Herbort und dem dichter des passionals:
dô entstunt in der tac (dies eis defecit).
Herb. 12363;
dô enstunt in dirre tac,
als in der ander was enstanden.
12886;
sô im des blutes entstunt,
sô mochte er genësen niet.
11753;
der im in sîner êwekeit
nicht entstunt noch gebrach.
pass. K. 80, 53;
nu bin ich leides ungenësen,
wand mir die hoffenunge entstât.
102, 51
zeimal brôtes im entstunt.
386, 18.
nhd. begegnet kein solches entstehen bei Keisersberg und Luther, noch bei Dasypodius und Maaler, doch sonst hin und wieder im 16 jh., wird aber im 17. 18 häufiger: so will itzt zu bedenken sein, wie man genugsam und versichert geleit suchen will, und im fall dasz es entstünde, ob man ohne genugsame vergleitung und versicherung schicken oder auch die praedicanten will ziehen lassen. churf. Joh. Friedrich bei Melanchthon 3, 264; und obwol ihrer maj. die gütlichkeit entstanden (amicis tractationibus nihil esse profectum). churf. Moriz ebendaselbst 7, 6; darumb er gedachte, die stadt kundte ihm nu nicht entstehen. Schütz beschr. von Preuszen 22;
das im von allem nichts entstünd,
welchs er nicht hett ausrichten künd (gekonnt).
Waldis leben Esopi 4ᵃ;
das er bei dem als bei eim fründ
erhalten würd, obs reich entstünd,
das er denn würd den tag erleben,
als ein erb möcht das reich erheben.
Esop 4, 20 bl. 235ᵇ;
Reinick fragt, was braucht ihr für kunst,
wenn euch entsteht der freunde gunst?
froschm. 1, 2 6. J 7ᵃ;
eh den flüssen
ihr gestähltes band entsteht (das eis bricht)
und der späte schnee vergeht.
Fleming 387;
wie thut ein wilder löw und beer,
entstehn ihm seine jungen,
ein tieger läufet hin und her
durch liebe blosz bezwungen,
wenn ihr die kleinen sind entführt.
S. Dach Vᵇ;
der trotzt den himmel mehr, als dasz er solt vertrauen,
der, wenn er die gefahr verhüten kann, entsteht
und, da er stehen kann, mit ihr zu grunde geht.
Haugwitz Maria Stuarda 23;
damit ja keinem einzigen widerkehrenden seine gnade entstünde. Spee tugendb. 192; und gleichwol entstunden ihm auch die mittel (den) eigenen herrn zu spielen. pol. stockf. 18; die bisthümer musten dem reich mit ihrem vermögen beispringen, oder im entstehenden fall sich andern fürsten unterwerfen lassen. Hahn 2, 218; er konte dabei hoffen, dasz ihm die nation selbst nicht entstehen würde. Mascou 2, 323;
und da mir alles sollt entstehen,
müst ihr selbst mit nach Frankreich gehen.
Canitz 216;
den frieden mit sich selbst, der nimmer dem entsteht,
der durch das innre glück das äuszre glück erhöht,
das kleinod kennt ihr nicht.
Hagedorn 1, 24;
bei dem in unserm gebiet gelieferten landtreffen sind wir euch und dem Pausanias nicht entstanden. Heilmanns Thucydides 371 (Jacobi: standen wir euch und dem P. zur seite); wir glauben, dasz die gnade der gottheit uns nicht entstehen werde. 747; damit der arme die gebührende genugthuung erhalte, wiewol nicht zu zweifeln sei, dasz ihm solche bei dieser hohen gerichtsstelle nicht entstehen könne. Wieland 20, 81; wenn sie ernst sieht, kann mir ihre vergebung nicht entstehen. Lessing 1, 582; wer logik in einer komödie zeigt, dem würde sie gewis auch zu einer predigt nicht entstehen. 10, 175;
selber auch werd ich
euch nicht lang entstehen, mich drängt die begierde des kampfes.
Od. 16, 171;
halb erhobenen thürmen entsteht nun die letzte vollendung.
Bürger 245ᵇ;
sprachs. nicht länger entstand ihr der vater der götter und menschen.
213ᵃ;
und wenn, nach Paris hinfall, Priamus
nebst seinen söhnen dieser busz entsteht (ermangelt),
so bleib ich hier und streite fort um sie.
154ᵃ;
die edlen drängt nicht gleiche noth mit uns,
doch ihre hülfe wird uns nicht entstehn,
wenn sie das land in waffen erst erblicken.
Schiller 524ᵃ;
mir darf dein rath noch immer nicht entstehn.
Tieck 3, 218;
gefangen sind wir, aber nicht gebeugt,
das kriegsglück wechselt, doch der held ist der,
dem nie das adliche gemüth entsteht.
Uhlands Ludwig 7;
wem ruhiger forschgeist nicht entstünde. Dyanasore 1, 5; aber wenn ihr euch selbst entsteht, wenn in euren herzen der geist ehrenvoller nacheiferung nicht liegt, wer kann eure seele erheben? 1, 68; der name entsteht seinen thaten. 1, 131; niemand als der bösewicht oder der gauner kann beiden entstehn. Herder 17, 274; zog mich aber in eine unerlaubte ausschwatzung ihres hauses hinein, für die mir ihre verzeihung so wenig entstehe, als ihnen die meine. J. P. flegelj. 1, 82; verwickelten dadurch den könig, der seinem lehnsmanne nicht entstehen konnte, in den sogenannten markgrafenkrieg. Dahlmann dän. gesch. 1, 435. das zusammengesetzte praet. wird, wie die stelle aus Heilmann 371 beweist, auch hier mit sein, nicht mit haben gebildet. doch ist der ausdruck überhaupt heute mehr gemieden als gesucht und die folgende bedeutung überwiegt.
3)
positives entstehen, oriri, werden, eigentlich aufstehen, surgere, ganz wie entspringen, aufspringen; die beispiele lehren es, zumal gern von sommer, jahr, fest, tag, abend, nacht, sonne, mond, wetter, sturm: mhd.
ich hôrte ein merlikîn wol singen,
daʒ mich dûhte, der sumer wolte entstân.
MS. 1, 48ᵃ. minnes. frühling 77, 37;
wen daʒ der âbunt entstunt (wäre es nicht a. geworden).
Herb. 12512;
hin gein meridiê,
dâ der mitte tac enstât.
14235;
als der sumer enstât.
14332;
daʒ man den tach jêrlich begêt,
als sîn kunft mit vreude enstêt.
pass. H. 166, 62;
als der sëlbe tach enstêt.
166, 67;
swanne in enstunt ein hungerjâr.
212, 22;
die ôsterzît uns nu entstât.
264, 2;
want ein verlustlicher dach
intstônt uns an dëser wochen.
Crane 275;
de hôgtît sal uns hûte entstân.
1969;
als ir der vrouden rîche naht
intstunt van wërden frunde.
2163;
unde waʒ darnâch mochte entstân
entwëder schaden oder vrumen.
pass. K. 66, 32.
man musz sich hüten diese bedeutung mit der vorigen zu verwechseln. Herbort sagt: der tac, der sumer enstât = es wird tag, sommer; hingegen: der tac enstât mir = geht mir aus, gebricht mir; dem privativen sinn fügt er immer persönlichen dativ hinzu, der jedoch anderemal auch die positive bedeutung geleitet: der tag ist mir entstanden, entsprungen, oder der privativen bedeutung abgeht, wie in den stellen von Waldis und Haugwitz. MS. 1, 48ᵃ verstand Adelung gerade falsch. nhd. belege für entstehn = oriri sind unselten: wan er aber also unmäszig sich in seinem schreien erzeiget, also das die leut darab geergert würden, so möchten todsünde daraus entstan. Keisersberg s. d. m. 41ᵃ;
mancher verzert in petterle me,
dann im usz sinem tag entstee.
Brant 71, 30,
braucht für petersilie in seiner suppe mehr, als ihm vortheil aus seinem gerichtstag erwächst, d. h. beinahe gar keiner; so sehet nu zu, das ir nicht hinlessig hierinnen seind, damit nicht schade entstehe dem könige. Esra 4, 22; denn ir unfal wird plötzlich entstehen. spr. Salom. 24, 22; das vier königreiche aus dem volk entstehen werden. Dan. 8, 22; der hat einen hellen schein in unser herzen gegeben, das durch uns entstunde die erleuchtung von der erkenntnis der klarheit gottes. 2 Cor. 4, 6; ausgetilget die handschrift, welche durch satzung entstund und uns entgegen war. Col. 2, 14; der wind entstaat, erhebt sich, facht an wäien, ventus nascitur. Maaler 106ᵇ; es entsteht (steigt auf) ein sturm, ein gewitter, heftige feuersbrunst; es entstaat ein wunderbar wunder, monstrum mirabile oritur. Maaler a. a. o.; es ist ein krieg entstanden; hier entstand auf einmal ein gelächter;
sein lob sei, wo die sonn entsteht (aufgeht).
Opitz ps. 113;
wilst du denn vor untergehn
und so wider früh entstehn,
güldnes auge dieser welt,
eh sich dieses paar gesellt?
Fleming 380;
wann Phoebus auf die wache geht (aufzieht),
weicht Luna weg, will sie entstehn (aufsteigen),
musz Phoebus dann zu bette gehn.
Opitz 2, 169;
aus dem 'verwahrt' und dem 'bewahrt'
war spott, verachtung, hasz und rach und wuth entstanden.
Gellert 1, 147;
lern es von mir, wie dieser bau entstanden.
1, 150;
ebenso entsteht ein doppelter reiz daher, dasz diese personen keine frauenzimmer sind, sondern frauenzimmer darstellen. Göthe 38, 177; die dichtkunst entsteht erst mit Hercules. 39, 6; dadurch entstand ihr in der ganzen gegend ein name von vortreflichkeit. 17, 242; der begrif von entstehn ist uns ganz und gar versagt, daher wir, wenn wir etwas werden sehen, denken, dasz es schon da gewesen sei. 50, 143;
schlägst du erst diese welt zu trümmern,
die andre mag darnach entstehn.
12, 84;
mein gehirn
treibt öfters wunderbare blasen auf,
die schnell, wie sie entstanden sind, zerspringen.
Schiller 262ᵇ;
so entsteht mir (steigt mir auf) der verdacht, dasz man nicht recht wisse, wovon man rede. 488ᵃ;
aus geist entstand die welt und gehet auf in geist.
aus einem irrthum entstehen drei andere; hier entsteht die frage; was kann noch alles daraus entstehen?
4)
ahd. intstantan bedeutet intelligere (Graff 6, 601), in naher berührung mit farstantan, verstehen und ags. understandan, engl. understand. mhd. entstên und sich entstên:
sô getrûwet si dem eide und entstêt mîns hërzen riuwe.
Walth. 74, 9;
als ich michs entstân.
minnesangs frühling 24, 2;
als ich entstân ze rëhte wol.
Ben. beitr. 1, 79;
ouch kan ich mich vil wol entstân.
Reinh. s. 361;
als schiere dô ër sich enstuont.
Lanz. 250. 1234. 1261;
zehant als er ir (der bösen gedanken) entstê, sô jage sie ûʒ. myst. 1, 312;
an der wart elliu magtlîch êre enstanden.
Tit. 19
= verstanden, begriffen, inbegriffen, zeigte sich. hiesze es 'was' für 'wart', so ergäbe sich leicht der sinn: war entsprungen. diese vierte bedeutung nhd. erloschen.
Fundstelle
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Lfg. 3 (1859), Bd. III (1862), Sp. 631, Z. 78.

entstehen, n.

entstehen, n.
1)
abgang, mangel, ermangelung: dem recht nach fiel die erbschaft an ebenbürtige geschwister und in deren entstehen an sippen und magen. so auch die fehlten, an das geschlecht. Niebuhr 2, 381.
2)
beginn, ursprung: der aufruhr wurde alsbald im entstehen gedämpft; das übel ist noch im entstehen begriffen;
gleich einer weibersage,
die im entstehn schon halb vergessen ist.
Fundstelle
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Lfg. 3 (1859), Bd. III (1862), Sp. 634, Z. 49.

entstehend

entstehend,
1)
ermangelnd: entstehenden falls. Rabener 1, 184.
2)
entspringend: ein entstehender streit, krieg.
Fundstelle
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Lfg. 3 (1859), Bd. III (1862), Sp. 634, Z. 57.

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j k l m n o p q r
s t u v w x y z -
entgegenneigen entzischen
Zitationshilfe
„entstehend“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erstbearbeitung (1854–1960), digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/dwb/entstehend>.

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