Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute.

Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (¹DWB)

sittlich, adj.

sittlich, adj.
der sitte gemäsz, darauf bezüglich, moralisch, ahd. situ-, sitilîh, adv. -lîhho. Graff 6, 161, mhd. sitelîch (bair.-östr. -leich), adv. -lîche, -lîchen. Lexer mhd. handwb. 2, 943, frühmd. setlîch. myst. 1, 181, 25 (s. unten 2), frühmd. mnd. sede-, sidlich, zedelic, moralis. Dief. 367ᵇ, siddelich, morosus. 368ᵇ, sedelik, adv. sedel(i)ken, -e. Schiller - Lübben 4, 163ᵇ. 164ᵃ, sidlik. 218ᵃ, frühnhd. bisweilen noch in der schreibung sitlich, so H. Sachs 1 (1558), 152ᶜ (s. unten 2), meist aber schon vom 15. jh. an sittlich, morosus. Dief. 368ᵇ (15. jh.). Dasypodius. Maaler 375ᵃ. Stieler 2044. Steinbach 2, 594. Frisch 2, 281ᵇ. Adelung, in adverbialer verwendung frühnhd. noch bezeugt als sitlichen, moraliter. Dief. 367ᶜ (von 1510), sittlichen. Steinhöwel Äsop 139 Österley. Braunschweig chir. 94 (s. unten 5).
1)
der gewohnheit, dem brauche, herkommen gemäsz, dazu gehörig, rite. Graff 6, 161, consuetus. Steinbach 2, 594, more receptus. Frisch 2, 281. Adelung, meist prädicativ: se sungen gloria in excelsis, dat doch in den advente nicht sedelich is. quelle bei Schiller - Lübben 4, 163ᵇ, in der regel mit sinnverwandten ausdrücken verbunden, auch gelegentlich beim verb. substant. in adverbialer form: alse sitlich und gewönlich ist. quelle von 1339 bei Lexer mhd. handwb. 2, 943; darzu sullen danne die obgenanten nun und czweintzig ratgeben von den zunfften us in und us den purgern nemen und welen vier bumeister, zwen sigler und sehs stiurmeister ie ze den ziten als man die dann nemen sol und als sitlichen und gewonlichen ist. d. städtechron. 4, 136, 15 (München, von 1368); an der auʒvart sol er den selen ze hilff und ze tröst auf ainen tag vier und zwaintzzigk meʒʒ haben und hundert kertzin tragen igleichiu mit ainem pfund wachs zuͦ dem opfer und zu der par alʒ sitleich und gewöndlich ist. 181, 43 (München, von 1375); aber umb unzucht allein sollen die leut dem gericht bessern nach genaden, als sitlich und gewondlich ist. tir. weisth. 4, 96, 8 (von 1395); (der richter) sol des selben tags richten allermännichleich, wer ze schaffen hat, nach frag und nach volg, als von alter her ist chömen, und sitleich und gewönleich ist. 1, 114, 9 (um 1400); als dann an vil steten sittlich und gebönlichen ist, daʒ man zu der österlichen zeit mit gocz leichnam um den esch (saatfeld) rait. d. chron. 2, 369, 8 Weiland (bair., von 1443); als dar zedelik und wohntlik is. quelle von 1501 bei Schiller-Lübben 4, 163ᵇ;
weil es ub- und sittlich ist.
Homburg Clio J 8ᵇ;
ich hatte dir die hochzeitsfackel ja
nicht angezündet, wie es sittlich ist
und recht.
Schiller Phöniz. 323 (φῶς νόμιμον ἐν γάμοις).
in andrer syntactischer fügung, adverbial: unde des to tughe so hebben wy dit sedelken mede beseghelt myt dessem ieghenwardighen breve. quelle von 1453 bei Schiller-Lübben 4, 164ᵃ. Adelung bezeichnet solche anwendung als wenig gebräuchlich auszerhalb der sprichwörtlichen verbindung ländlich, sittlich, die auch heute noch gebraucht wird, aber meist in verändertem sinne. ländlich, sittlich, lex et regio. Stieler 2044, quanti paesi, tanti costumi. Kramer deutsch-ital. dict. 2 (1702), 821ᶜ, quaelibet regio proprios habet mores (Steinbach 2, 594), quot regiones, tot consuetudines. Frisch 2, 281ᵇ, jedes land hat seine sitten oder wie es den sitten eines landes gemäsz ist. Campe: jr (der bürgerschaft Deutschlands) handthierung, sitten, gotszdienst, bawen ist yedermann bekant, doch nicht allenthalben gleich, sunder wie an allen orten, ländtlich, sitlich. Franck weltb. 1, 47ᵃ; Johann. ich dachte aber aus den cardinälen würde ein papst erwählet? Simpl. ländlich, sittlich. machen wir doch auch aus den rathsherren einen bürgemeister. Weise kl. leute 185. durch und verbunden:
iezo fand sie die mütz', urahnlicher feierlichkeit voll,
welche zuerst ihn geschmückt als bräutigam, ländlich und sittlich.
Voss 1 (1825), 58 (Luise 2, 104).
auch in attributiver verknüpfung als einheit behandelt: ein ländlichsittliches fest. vgl. landsittlich oben theil 6, 137. andrerseits deutlich einander gegenüber gestellt, mit hervortreten einer prägnanten bedeutung von sittlich. vgl. 3:
daheym aber ein jede(r) stad
ihr gewonheyt in ehren hat.
der sich erbare leut befleissen,
und was lendlich ist, sitlich heissen.
Rollenhagen froschm. (1595) Y 3ᵇ;
die einfalt macht, dasz ländlich sittlich heiszt.
Hagedorn 3, 167.
heute gebrauchen wir ländlich, sittlich meist, indem wir ländlich seiner jetzt gewöhnlichen anwendung gemäsz als gegensatz zu städtisch fassen, scherzend von dörfischen zuständen, die dem städter anstöszig sind.
2)
zu den lebensgewohnheiten, in denen sich die innere menschliche art äuszert und zu dieser inneren art selbst gehörig, darauf bezüglich, mit vorwiegender beziehung auf das rein moralische, moralisch in indifferentem sinne, schon früh bezeugt, aber erst im 18. jahrh. befestigt und vertieft, heute neben der entsprechenden prägnanten anwendung (s. 3, b) durchaus überwiegend, vielleicht durch lat. moralis beeinfluszt, moralis. Graff 6, 161. Dief. 367ᶜ. Steinbach 2, 594. Adelung: di anderen (tugenden auszer den göttlichen und vernünftigen tugenden) gehôren zu dem willen und zu den andern kreften; der houbit sint genant gerechtikeit, sterke und mêʒikeit; in den sint vile andere besloʒʒen, und diz heiʒen setlîche tuginde, wanne si hôren zu den seten. d. myst. 1, 181, 25; dat gheystlike leven .., dat up de godliken, sedelken unde vornuftliken dogheden ghestichtet is. quelle bei Schiller-Lübben 4, 163ᵇ; Reynke Vosz de olde .. mit sidlikem vorstande und schonen figuren erluchtet und vorbetert .. darneben is hyr ock entdecket de sytlyke vorstand und gebruck desser fabel. titel der ausgabe des Reineke Vos von 1539 bei denselben 4, 218ᵃ; der sittliche verstand, senso morale. Kramer dict. 2 (1702), 821ᶜ; was durch ein gesetz verboten ist, ist sittlicher weise unmöglich. Adelung; (ein krieg) der in so wenig jahren alle andern übel, die der krieg immer nach sich zieht, noch durch eine .. fürchterliche sittliche zerrüttung vermehrt hat. Wieland 31, 302; denn er wuszte nur zu wohl, dasz es schwerer sey, gebildeten menschen bei sittlichen verworrenheiten zu hülfe zu kommen, als ungebildeten. Göthe 17, 183; sehen wir nicht in der geschichte, dasz menschen, die wegen groszer sittlicher unfälle sich in die wüsten zurückzogen, dort keineswegs, wie sie hofften, verborgen und gedeckt waren. 377; wir sehen daraus, dasz man nicht wohl thut, der sittlichen bildung, einsam, in sich selbst verschlossen, nachzuhängen. 19, 343; denn das ist ja eben das lehrreiche solcher sittlichen mittheilungen, dasz der mensch erfahre, wie es andern ergangen, und was auch er vom leben zu erwarten habe. 24, 104; mir war jedoch durch diese hämischen worte eine art von sittlicher krankheit eingeimpft, die im stillen fortschlich. 107; mir kam es immer als eine tücke, als ein spioniren vor, wenn ich einen gegenwärtigen menschen in seine elemente zerlegen und seinen sittlichen eigenschaften dadurch auf die spur kommen wollte. 48, 140; so grosz und vielfach ist das verdienst der bessern bühne um die sittliche bildung. Schiller 3, 520; indem er (der geschmack) den ersten und offenbaren feind der sittlichen freiheit entwaffnet. 10, 419; der sittliche werth eines menschen, einer handlung, in sofern sie gut oder böse sind. Campe; das sittliche verderben begreift sowol den aberglauben, die irreligion, weil sie auch auf die freien handlungen des menschen einen schädlichen einflusz haben, als die laster, weil sie eine wirkung des miszbrauchs der freiheit sind. Eberhard bei demselben; der geistesrichtung des ersteren aber, in der die staatlichen und sittlichen angelegenheiten seiner glaubensverwandten im vordergrunde standen, konnte er keine entsprechende theilnahme widmen. Auerbach dorfgesch. 2, 74;
nun diese poetische fabel
beschriben zu einer parabel
ein sitliche bedeutung hat.
H. Sachs 1 (1558), 152ᶜ;
nur henker kitzeln sich bey andrer schmach und schmerzen,
die groszmuth ist voll glimpf: sie hilft, sie schonet nur;
und diese regung krönt die sittliche natur.
Hagedorn 1, 97;
keinen höhern begriff erringt der sittliche denker (der sich mmit den gesetzen und ursachen der inneren menschlichen
art beschäftigt).
Göthe 3, 99;
auch in der sittlichen welt ist ein adel; gemeine naturen
zahlen mit dem, was sie thun, schöne mit dem, was sie sind.
Schiller 11, 167.
sittlich so im gegensatze zu sinnlich, körperlich und ähnlichen ausdrücken, aber gerade hier oft über das gebiet des rein moralischen hinausgreifend: van der naturliken kunst, van der zedeliken kunst. quelle bei Schiller-Lübben 4, 164ᵃ; ich sehe die überspannte meinung von der höhern körperlichen und sittlichen vollkommenheit der Griechen bey vielen als die zusammen gesetzte wirkung ganz verschiedner ursachen an. Wieland 24, 160; indem ich auf mancherlei unsinnige weise in meine physische natur stürmte, um der sittlichen etwas zu leide zu thun. Göthe 25, 111; denn jedem ist bekannt, wie mächtig gewisse sittliche eindrücke sind, wenn sie sich an sinnlichen gleichsam verkörpern. 238; es schien sich mir eine grosze und freie aussicht über die sinnliche und sittliche welt aufzuthun. 26, 290; in ihm selbst (Lavater) mochte wohl der begriff des sittlichen und sinnlichen menschen ein ganzes bilden. 48, 147. sinnlich sittlich: die sinnlich sittliche wirkung der farbe ward darauf ausgeführt. Göthe 31, 261. entsprechend adverbial: etwas sittlich verstehen, intendér una cosa moralmente. Kramer deutsch-ital. dict. 2 (1702), 821ᶜ; sittlich gut, sittlich böse. Adelung; und was ist es denn nun, was die sittlich gute gesinnung oder die tugend berechtigt, so hohe ansprüche zu machen? Kant 4, 60; schöne kunst und wissenschaften, die .. wenngleich den menschen nicht sittlich besser, doch gesittet machen. 7, 315; in dem alter, wo gefühlvolle seelen einen noch ungeschwächten sinn für das sittlich schöne und grosse haben. Wieland 31, 277; das einzige mittel dagegen sey aus eigener brust sittlich gleichgeltende, gleichwirksame, gleichberuhigende gesinnungen hervorzurufen. Göthe 23, 178. substantivisch neutral: während eigentlich poetische arbeiten, die über dem sittlichen und sinnlichen schweben, erst durch einen umschweif und gleichsam nur zufällig nützen können. Göthe 26, 322. bisweilen findet in neuster zeit bei der beziehung des worts auf das moralische in indifferentem sinne eine eigenthümliche beschränkung auf das sexuelle statt, in wendungen wie: die sittlichen verhältnisse auf dem lande lassen viel zu wünschen übrig. vgl. sittlichkeit 4 und unsittlich.
3)
den guten sitten gemäsz.
a)
zunächst wol in bezug auf das, was allgemein als gute sitte gilt, dann auch auf die bei einem solchen verhalten vorausgesetzte innere art des einzelnen bezogen und so der gewöhnlichen anwendung von sittig entsprechend (s. sittig 3 oben), urbanus. Steinbach 2, 594, schon von Adelung als veraltet bezeichnet, aber noch von Göthe mehrfach so gebraucht. oft adverbial: der babst Hildebrand schribe allen Teutschen ganz sittlich. Aventin bei Schm.² 2, 338; also stund der gütig hertzog Naymas von Beyern sitlichen auff und sprach. Aimon a 4ᵇ; geistliche, mit denen man erbauliche unterhaltung sittlich zu pflegen gewohnt war. Göthe 22, 101; in diesen tagen kehrte ein reisender bei uns ein, wahrscheinlich unter geborgtem namen, wir dringen nicht weiter in ihn, da er sogleich durch sein wesen uns vertrauen einflöszt, da er sich im ganzen höchst sittlich benimmt, so wie anständig aufmerksam in unsern versammlungen. 23, 177;
diu stolze und diu wolgesite
si gienc im sitelîche mite.
man sol si sitlich lêren
iwern willen ze begân.
Ottokar 61700 Seemüller;
gar sittelich er zu in sprach.
Keller altd. ged. 24, 1;
so ist zu loben noch ein mann,
welcher mit guten schwencken kan
ein böses stück fein unterkummen,
welches er heimlich hat vernummen,
und kan es fein mit schertz und schimpffen
vor iederman sitlich verglimpffen.
H. Sachs 17, 364, 24;
erweist euch nun, wir anerkennen's willig,
aufmerksam offnen sinns, gerecht und billig.
so schmücket sittlich nun geweihten saal
und fühlt euch grosz im herrlichsten local.
Göthe 4, 205;
und so brachten bei uns auf deutscher seite gewöhnlich
auch die kinder des morgens mit händeküssen und knixchen
segenswünsche den eltern, und hielten sittlich den tag aus.
40, 318.
adjectivisch: sîn (Christi) angesiht was einvalteclîch unde z(l. s)itelîch. quelle in Haupts zeitschr. 4, 575; die männer sind höflich, keine spur von rohheit; man bemerkt eher eine sittliche stille. Göthe 43, 67;
der im mit sittlicher geberd
nach seiner feder (im bart) tasten thät.
wunderhorn 2, 177 (nicht im original, Thyms Thedel v. Wallmoden);
hör', was sittlich und dezent
nach dem tischzuchtreglement.
Brentano 5, 132.
moralischer bedeutung näher, aber doch wol noch im sinne des der schicklichkeit gemäszen, anständig maszvollen:
diu herzen sîn vridelîch
und der muot sitelîch.
buch d. rügen 1636.
ebenso meist in älterer zeit bei unmittelbarer beziehung auf personen, auch noch bei Göthe nachklingend, wie gesittet: er het einen herlichen leip und was guter gebærde, er was ein weiser, zuhtic man und dorzu sitleich, und ein gut rihter mit guter beschaidenhait. d. chron. 2, 332, 16; und da Magis aufgesessen was, er scheyn wol eyn treffenlicher helt zusein, wann er auch also eyn mänlicher unnd sitlicher mensch was, als man yemants der zeit finden mocht. Aimon o 4ᵇ; also machte er sich auf die reisz und schickte einen trompeter voran, seinem künfftigen schweher neben vermeldung seines diensts und grusses anzuzeigen, dasz ein sittlicher cavallier auff dem weg begriffen wäre, ihme zuzusprechen und seinem frauenzimmer gebührend aufzuwarten. Simpl. 4, 309, 9; Hevel hingegen war ein feiner, sittlicher mann, der uns immer geduld und mut einsprach. Bräker 84 Bülow;
ach gott, wie auszerwelt und zart,
wie schön und adelicher art
ist Hester, die junckfraw geziert,
auszbündig wol geliedmasiert,
sitlich, züchtig, ehrbar geper!
H. Sachs 15, 101, 30 Keller-Götze;
hier dieser mann, berühmt als klug und sittlich,
hat roh und hämisch, wie ein unerzogner,
unedler mensch, sich gegen mich betragen.
Göthe 9, 160;
ironisch:
den männern, die auf weiber schmählen,
wenn sie der nachbar sittlich macht,
o denen kann Crispin erzählen,
der wein ertränke den verdacht.
Hagedorn 3, 48.
b)
den allgemein gültigen gesetzen des guten menschlichen handelns und der ihm zu grunde liegenden inneren menschlichen art gemäsz, der moral entsprechend, moralisch in prägnantem sinne. Campe, vielleicht bisweilen schon in älterer sprache, so nach dem herausgeber in folgender stelle:
wis, syttlich vätter, tugentrich
machen ouch kinder jren glich.
Brant narrensch. 49, 23 Zarncke,
doch vgl. a schlusz. allgemeiner jedenfalls erst seit dem 18. jahrh., der entwicklung der entsprechenden indifferenten bedeutung (s. 2) gemäsz: das vermögen heiszt sittlich, wenn es mit den gesetzen der weisheit und güte bestehen kann. Hamann 7, 22; es ist unsittlich und unfromm, immer sittlich und fromm sein zu wollen. Immermann 5, 77; sittliche entrüstung; eine sittliche handlung; der glaube an eine sittliche weltordnung;
nicht dem zügel des gesetzes
entzieht sich ihre brausend wilde jugend,
und sittlich selbst blieb ihre leidenschaft.
Schiller braut von Messina 2052.
adverbial: in der schönen haltung eines pittoresken oder musikalischen stücks malt sich die noch schönere einer sittlich gestimmten seele. schriften 10, 245. auch gesteigert: einen frömmern sittlichern effect, als jene mitunter rohen und gefährlichen alterthümlichkeiten, machte Fenelons Telemach. Göthe 24, 50. die ansicht, dasz die moralischen gesetze dem menschen von natur innewohnen, die nachdrücklich von Shaftesbury und seinen nachfolgern und in anderer art von Kant betont wird, trägt zur ausbreitung dieser anwendung bei. deutlich zeigt sich ihr einflusz in der folgenden stelle, wo das sittliche dem sinnlichen gegenüber in prägnantem sinne gebraucht erscheint: in der würde nehmlich wird uns ein beyspiel der unterordnung des sinnlichen unter das sittliche vorgehalten, welchem nachzuahmen für uns gesetz, zugleich aber für unser physisches vermögen übersteigend ist. Schiller 10, 118.
4)
im anschlusz an 3, a in bezug auf thiere wie sittig 4, sanft, zahm, fromm, adverbial: wann die zwen tag vergangen seind, so ist es (das pferd) erst gut zu reiten, es gat sitlich daher und ist im der gammel gelegen. Keisersberg brösaml. 2, 67ᵃ. adjectivisch: unser pferd ist das sittlichste und wohlerzogenste auf der ganzen welt. Tieck don Quixote 2 (1874), 110.
5)
gleichfalls im anschlusz an 3, a wie sittig 5, deliberatione. Graff 6, 161, paulatim. voc. von 1418 bei Schm.² 2, 338, sittlich und treglich, tarde, lente. voc. bei Zarncke Brants narrensch. 329ᵃ, sensim. Dasypodius. Maaler 375ᵇ, moderate. voc. von 1618 bei Schm. a. a. o. Dentzler 2, 265ᵃ, gemach, nach und nach, sachte, gemäszigt, adv. und adj. (Franken). Schm. a. a. o., sanft, in physischem sinne, adv. Stalder 2, 375, adverbial, in beziehung auf personen: und rueft man drei stund: 'herr richter, nempt in den schedlichen, der lant und leut ain schedlich man ist, und das lant und leut davon gericht werde' zu dem ainen mal, zu dem andern mal, zu dem dritten mal und sittlich, das der richter müg herab kumben ausz dem hausz. tir. weisth. 2, 308, 11 (von 1303); und darnach vahend an ze lesen sitlichen und nit ze vil. Tauler bei Schm.² 2, 338; mitsampt seiner geselschafte gieng er sittlich seinen veinden engegen. volksb. v. herz. Ernst 263, 19 Bartsch; als aber der hirt die wunden an dem fuosz des löwen sach und die groszen geschwulst, merket er des löwen begeren, und nam ain scharpfe sülen oder al und öffnet im den fuosz gar sittlichen. Steinhöwel Äsop 139 Österley; gepeute dem diener der den arm oder bain bei dem ellenbogen oder hant, füsz hat, das er stetz und sitlichen ziehe. Braunschweig chir. 94ᵃ; dʒ er gemechlich und sittlich gang fuͦsz für fuͦsz. Keisersberg bilgersch. 154ᵇ; seyg die brü sitlich ab. küchenmeist. (1530) C 4ᵇ; nimm ein traubenbör sittlich von dem trauben mit der handt, tringet dann für sich selbs etwas feüchts herausz, so zeyget es ein reychlichen herbst an. Herr feldbau (1556) 61ᵃ; sittlich umrüeren. quelle von 1591 bei Schm.² 2, 338; nimb thyriack, thue essig und saltz darunder, wasch das rosz unden am geschröt sittlich darmit. Seuter roszarzn. (1599) 414;
von in er fur, doch sitelich.
Ludwigs kreuzf. 2703;
drinck sittlich und huest nit darein.
meisterl. fol. 23 nr. 212;
eyn wiser ist, wer syttlich drinckt.
Brant narrensch. 16, 20 Zarncke;
tritt sittlich: fallst mir sonst ins grab.
Baseler totentanz in Haupts zeitschr. 9, 344;
geh trag dus in den wasserflus
und leg es fein sitlich hinein.
H. Sachs 3 (1561), 1, 20ᵇ;
flucks nimb das eyssn, weil es ist heisz,
und trag es sittlich ausz dem kreisz.
fastn. sp. 3, 143, 200 neudruck;
ir knecht, geht hin auff ebner strasz!
tragt Plutonem sittlich, auff das
er nit von euch werde geletzet.
werke 6, 165, 1 Keller;
nach dem der herr zu dem leschdrock
das glüend mennlein hinein zug,
dasz das wasser ob ihm zsamb schlug
und kühlet es fein sitlich ab.
17, 291, 19;
bekannt ist weit und breit der wein,
gewachsen hin und her am Rhein,
macht sittlich moduliren.
wunderhorn 2, 270 Boxberger (von 1610);
drauff müd, und matt zur erden
sie sittlich nidersitzt.
Spee trutznacht. (1649) 60;
dasz er, wenn er noch so sittlich kaut,
endlich doch nicht sonderlich verdaut.
Göthe 2, 197.
adjectivisch: da besuochten si zwen ellenden ir flucht und stigent her abe ausz dem neste und komen mit sitlichem hangen und climmen von den auszgespitzten bergen mit groszer arbaite wie si mochten. volksb. v. herz. Ernst 268, 17 Bartsch; do komen baide streithere mit sittlichem fuosztritte an die stat do der streit solt beschehen. 283, 4;
der
narr ist gar laut mit seinem lachen,
aber der weis chan sein gelächter sittleich machen.
Vintler blumen der tugent 2831.
unmittelbar auf eine person bezogen: etlich .. sein unrüwig fechten fast zablent und zablent und gat inen nichtes dester me von hand und ein anderer der sitlich ist schaffet me dan er. Keisersberg narrensch. 36ᶜ. adverbial zu freierem gebrauch überleitend: lauss den salpeter sittlich sieden, das er nit uber louffe. quelle von 1432 bei Lexer mhd. handwb. 2, 943 (vgl. Fronsperger kriegsb. 2 [1573], 219ᵃ); las braten sitlich. küchenmeist. (1530) C 2ᵇ; nim dann frischen ungewässerten butter, lasz ihn sittlich zergehen. Gäbelkhover arzneib. (1599) 285;
(die köchin) würget zwey hüner an der stet,
füllt die und steckt sie an den spiesz
und sie fein sittlîch praten liesz.
H. Sachs 9, 462, 25 Keller.
ohne mittelbare oder unmittelbare beziehung auf personen, adverbial: da vieng der turn an zu sinken undersich gar sittlich und still, dasz kain grosz prastlen oder gedön da was. d. städtechr. 5, 318, 14 (Augsburg, von 1467); das gertlin (der epheu) wechszt sitlich für sich, unnd ergreyfft gmachsam den baum. Franck chr. (1531) 509ᵃ; und hat der sterbent gewert, doch sitlich abgenomen, bis invocavit. d. städtechr. 23, 396, 21 (Augsburg, von 1536); wann .. die krähen bei tag sittlich schreyen. Sebiz 8;
der regn der war sitlich nachlassen.
H. Sachs 5, 311, 15 Keller;
mich dünckt, der wind sittlicher geht.
16, 106, 13.
verstärkt allsittlich, wie allmählich: so es (das feld) allsittlich sich inn die höhe ziehet. Sebiz 23.
Fundstelle
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Lfg. 7 (1901), Bd. X,I (1905), Sp. 1266, Z. 33.

Im ¹DWB stöbern

a b c d e f g h i
j k l m n o p q r
s t u v w x y z -
simentsfeuer skorpfisch
Zitationshilfe
„sittlich“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erstbearbeitung (1854–1960), digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/dwb/sittlich>.

Weitere Informationen …


Weitere Informationen zum Deutschen Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (¹DWB)