Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute.

Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (¹DWB)

totalität, f.

totalität, f.,
allheit, ganzheit, vollständigkeit, einheit, aus mlat. nlat. totalitas (in der scholastischen philosophie z. b. bei Thom. v. Aquin, s. L. Schütz Thomaslex.² 813, und Nic. v. Cues s. R. Eucken gesch. d. philos. term. 82) und frz. totalité (seit dem 14. jh. s. Godefroy dict. 10, 782ᵃ) entlehnt, vgl. auch ital. totalità, engl. totality, oder zu dem schon zwei jh. vorhandenen und ende des 18. jh.s bes. lebendigen total mit dem fremden suffix -ität gebildet. bei Kant krit. d. r. vern. (1781) zuerst bezeugt, bezeichnenderweise mit vorangestellten synonymen s. u. 1 und 3; vgl. auch Uhl z. erinn. a. Kant (1904) 163. in wbb. zuerst bei Kinderling (1795) 338. die verbreitung des wortsder begriff kommt in der deutschen philosophie schon vor Kant bei Leibniz und Chr. Wolff vorvollzieht sich vor 1800 anscheinend im directen anschlusz an Kant als ein für den deutschen idealismus in seinem totalitätsdenken charakteristischer begriff, der aus der rein philosophischen sphäre sich auch in die anthropologische eines neuen humanitätsideals erweitert, s. u. 2 und 4: gegen 1789 bei Schleiermacher, s. u. 1, und Dilthey leb. Schl. (1870) anh. 10; 15; 23; vgl. (1922) 141; 1792 Fichte vers. e. krit. (s. u.); 1794 Schiller br. 3, 438; 4, 44 J. und 1795 in den br. über d. ästh. erz., s. w. 10, 292; 294; 284 G.; 1797 Göthe IV 12, 234 W.; dann bes. in seinen naturwiss. schriften, s. u. 1 und 3 und Euph. 21, 156; bei Herder erst 1799 und 1800 in den antikant. schriften 'metakritik' und 'Kalligone', s. u. seit 1800 allgemein gebräuchlich, bes. in der philosophischen und wissenschaftlichen fachsprache, vgl. Höffding d. totalitätsbegriff 85; 81; E. Sapiry totality (1930), namentlich in der psychologie und anthropologie seit W. Diltheys structurpsychologie, vgl. ges. schr. 5, 1, 139; hdb. d. philos. (1928) III e 92; IV f 26 Bäumler-Schröter.
1)
allheit, gesamtheit von individuellen begriffen gleicher art: dieser (der allgemeinheit [universalitas]) entspricht in der synthesis der anschauungen die allheit (universitas) oder t. der bedingungen Kant 1781 krit. d. r. vern. 403 Schm.; ²1787: so ist die allheit (totalität) nichts anders als die vielheit als einheit betrachtet 154 Schm.; im gegensatz zu 'das einzelne, mehrheit, vielheit': 'höchst' ist gar nicht comparativ zu nehmen als einzelnes, sondern als t. Schleiermacher w. 2, 87 Braun; t. alles ethisch für sich seienden einzelnen 2, 507; der quantität nach verbindet der rationalism immer mehrere fälle, und solang er sich bescheidet, die pluralität nicht für t. auszugeben ... Schiller br. 5, 325 J.; sonst: ob wir dasselbe (das universum) als die totalität der bewegten materie oder der bewegenden kräfte ... bestimmen D. Fr. Strausz ges. schr. 6, 99; vielleicht rückt einst die zeit heran, in welcher gleichstarke naturen, indem sie ... zugleich die natürliche wie die sittliche welt umspannten und aus der totalität ihrer welthistorischen begebenheiten im stande wären, von dem verhältnisse aller mit gleich untrüglicher sicherheit wie jene hinauf so herabzusteigen ... Ritter erdkde 1 (1822) 6; religionsphilosophisch: das wesen, das in höchster klarheit alle viere zusammenfaszte, haben alle völker von jeher gott genannt ... die nothwendigkeit der t. erkennen wir beyde, aber der träger dieser t. musz uns beyden ganz verschieden vorkommen Göthe IV 25, 312; ein naturloser gott ist ebenso undenkbar als eine gottlose natur, da beide begriffe nur abstractionen sind, während allein die t. das wahre volle wesen und leben hat Lange gesch. d. material. (1866) 104; im naturwissenschaftlichen bereich bei Göthe bes. von den farben: so lange nun in der farbenlehre nicht auch klar wird, dasz die t. der phänomene nicht unter ein beschränktes phänomen ... gezwängt werden kann 45, 306 W.; vgl. farbentotalität II 1, 325, meist aber im sinne von 3, bezw. 4, z. b. ebda 324.
2)
ganzheit, das ganze, 'die vereinigung der theile zur einheit eines ganzen, ... der inbegriff der theile' Eisler 3 (1930) 245: das 'gesetz der totalität' ebda; er (der bestimmungstrieb) verlangt bestimmtheit, vollkommene t. und ganzheit Fichte grdlage d. ges. wiss. lehre 228 in w. 1 Medicus; der einzelne vorgang ist von der ganzen t. des seelenlebens im erlebnis getragen W. Dilthey ges. schr. 5, 172; vgl.: in der lehre vom kosmos wird das einzelne nur in seinem verhältnisz zum ganzen als theil der welterscheinungen betrachtet ... wenn ... sie (die sprache) das unternehmen begünstigt, die t. der naturanschauung scharf zu begrenzen A. v. Humboldt kosm. 1 (1845) 40; im gegensatz zu 'allheit, unendlichkeit': allenthalben schaffest du (= verstand) dir ein ganzes; ein all aber kennest du nicht. t. des weltalls bedeutet dir inbegriff, umfassung mit deinen gedanken, ordnung Herder 21, 226 S.; ferner: da alles sittliche ein individuelles werden soll, so hat auch dies die t. des sittlichen zu seiner sphäre Schleiermacher w. 2, 55 Braun; es ist das wesen der humanitätsidee, dasz sie alle einzelnen strahlen des geistes in einen brennpunkt sammelt; also kann auch nur in dem ganzen der darstellung diese lebendige t. sich entfalten Spranger Wilh. v. Humboldt u. d. humanitätsidee V; in der kunst: das was des kunstwerks interessirt die menschen mehr als das wie; jenes können sie einzeln ergreifen, dieses im ganzen nicht fassen. daher kommt das herausheben von stellen, wobei zuletzt, wenn man wohl aufmerkt, die wirkung der t. auch nicht ausbleibt, aber jedem unbewusst Göthe 48, 195 W.; ähnlich III 4, 120; anthropologisch: t. des characters musz also bei dem volke gefunden werden, welches fähig und würdig sein soll, den staat der not mit dem staat der freiheit zu vertauschen Schiller 10, 284 G.; dasz uns die natur durch t. zur freiheit heraufzuheben angelegt ist Göthe II 1, 324 W.; dasz der politische mann wie das volk doch immer die harmonische t. der menschennatur darstellen solle, wozu gemüth und phantasie ebensogut gehören wie verstand und klarer wille W. H. Riehl freie vortr. 1, 329; t. des seelenlebens bei Dilthey ges. schr. 5, 172; 156; vgl. 169; 263; auch in anderem zusammenhang: das bild des schwebens über kräutervollen rasen und hainen ... schien mir zu fern von der t. zu bleiben. ich suchte ihm daher in der zweiten auflage durch hinzufügung der saat und des gartens mehr ausdehnung und fülle zu geben (nach 1796) Bürger 364ᵃ Bohtz; der rest ihres briefes enthielt bemerkungen über das betragen des grafen und die t. ihrer lage v. Bandemer zerstr. bl. 148; nicht ein wahrer staatsmann ist in diesen kammern zu finden, und die t. ist am ende ebenso ungeschickt als sogar willenlos Pückler br. u. tageb. 4, 80. oft adverbiell in der (seiner, ihrer u. ä.) totalität 'im ganzen': gegen den begriff der schicklichkeit in seiner t. Schleiermacher w. 2, 25 Braun; die liebe ... in ihrer t. ... erklären Rosegger schr. II 10, 38; erstens fehlt es uns in der t. an geeigneten offizierskandidaten unter den unteroffizieren Wilhelm I. mil. schr. 1, 493.
3)
vollständigkeit, wenn das lückenlose, das als nebenvorstellung in 1 und 2 vorhanden ist, in den vordergrund tritt: vollkommenheit, die darin besteht, dasz umgekehrt diese vielheit zusammen auf die einheit des begriffes zurückführt und zu diesem und keinem andern völlig zusammenstimmt, welches man die qualitative vollständigkeit (totalität) nennen kann Kant (1787) krit. d. r. vern.² 157 Schm.; ¹(1781): die absolute t. der synthesis auf der seite der bedingungen ... mit der absoluten vollständigkeit von seiten des bedingten nichts zu schaffen habe 414 Schm.; dasz sie (die einbildungskraft) allen ihren vorstellungen sinnliche vollständigkeit, materielle t. zu verschaffen sucht Schiller br. 4, 44; im gegensatz z. b. zu beschränktheit: der trieb würde in seiner t. aufgefaszt sein, wenn schlechthin keine beschränktheit desselben angenommen würde als die ... durch die ichheit selbst Fichte syst. d. sittenl. 215 in w. 2 Medicus; oder als steigerung: als bisz ich wenigstens eine sattheit der empirie empfinde, da wir an eine totalität nicht denken dürfen Göthe IV 12, 234 W., ferner: dasz die philosophie ein in sich geschlossenes system absoluter t. sein sollte Windelband gesch. d. neueren philos. 2 (1907) 281; auch auszerhalb des philosophischen bereichs: dasz mir der Faust seiner anlage nach auch eine t. der materie nach zu erfodern scheint, wenn am ende die idee ausgeführt erscheinen soll Schiller br. 5, 207; bei Göthe bes. in der farbenlehre im abschnitt 'totalität und harmonie' II 1, 321 ff.; z. b.: man kann sagen, es sei zu wenig in ihr (d. h. in der zusammenstellung gelb und blau): denn da ihr jede spur von roth fehlt, so geht ihr zu viel von der totalität ab 326.
4)
einheit, wenn die zusammengeschlossenheit betont wird: drittens sagt man, religion sei gemeinschaft nicht mit der welt, sondern mit gott. allein wie man auch beides gegen einander stellen möge, so ist immer gott das, in welchem die einheit und t. der welt gesetzt wird Schleiermacher w. 2, 178 Braun; ähnlich: weil das wahre als konkret nur als sich in sich entfaltend und in einheit zusammennehmend und haltend, d. i. als t. ist Hegel enc. d. phil. wiss. § 14; vgl. auch § 15; bes. vom wesen des menschen, in der humanitätsidee: menschliche totalität Spranger Wilh. v. Humboldt usw. 24; es musz also falsch sein, dasz die ausbildung der einzelnen kräfte das opfer ihrer t. notwendig macht; oder wenn auch das gesetz der natur noch so sehr dahin strebte, so musz es bei uns stehn, diese t. in unsrer natur, welche die kunst zerstört hat, durch eine höhere kunst wiederherzustellen Schiller 10, 294 G.; ähnlich 10, 292 G.; es ist eine t. in seinem (Humboldts) wesen, die man äuszerst selten sieht br. 3, 438; vielmehr ist es ja grade das verlangen, sich in seiner t. zu bewahren, was man die sehnsucht nach dem jenseits genannt hat Immermann 6, 20 Boxb.; im sinne von 'geschlossenes wesen': bei Shakespeare ist das tragische, wenn ein mensch seine t. aufgiebt und ein falscher bruch eines einzigen triebes wird Ludwig ges. schr. 5, 67.
Fundstelle
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Lfg. 6 (1931), Bd. XI,I,I (1935), Sp. 911, Z. 56.

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Zitationshilfe
„totalitat“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erstbearbeitung (1854–1960), digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/dwb/totalit%C3%A4t>.

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