Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute.

Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (¹DWB)

weltfrömmigkeit, f.

weltfrömmigkeit, f.
1)
'weltläufige (vulgäre) art der frömmigkeit' u. dgl.; nur vereinzelt nachweisbar: einen parallelismum zwischen der welt-froͤmmigkeit und dem Christenthum der gemeine Joh. Jac. Ritter ged. üb. d. Herrnhuth. streitschr. (1749) 57; der geistliche dichter ist nicht mehr gottbegeisterter prediger, sondern eleganter abbé, der sich an ein verwöhntes damenpublikum wendet und ihm eine bequeme frömmigkeit vermittelt ... tiefere gemüter, welche in der eleganten weltfrömmigkeit keine befriedigung finden ... Scherer lit. gesch. ¹⁴86.
2)
'weltfromme diesseitsgläubige gesinnung, die leben und diesseitige welt in ihrer ganzheit bejaht und mit der andacht zum irdischen verehrt' (vgl. weltfromm [2]). diese moderne bedeutung findet sich ansatzweise bereits bei Göthe: wir wollen der hausfrömmigkeit (religiosität der stillen kreise) das gebührende lob nicht entziehen: auf ihr gründet sich die sicherheit des einzelnen, worauf zuletzt denn auch die festigkeit und würde des ganzen beruhen mag; aber sie reicht nicht mehr hin, wir müssen den begriff einer weltfrömmigkeit fassen, unsre redlich menschlichen gesinnungen in einen praktischen bezug in's weite setzen und nicht nur unsre nächsten fördern, sondern zugleich die ganze menschheit mitnehmen Göthe I 24, 378 W. (wanderjahre 2, 7; vgl. hierzu J. Cohn in: logos 1 [1910-11] 248 ff., bes. 252 u. 254); sie wird jedoch erst relativ spät üblich und tritt in verschiedener schattierung auf: zwischen der ... weltfrömmigkeit des Griechen und der ... weltverneinung des Orientalen steht er (der gotische mensch) mit seiner glücklosen weltfurcht Worringer formprobl. d. gotik (⁴1918) 53; auf der anderen seite bietet eine solche gläubigkeit und weltfrömmigkeit doch auch grosze vorteile. denn wer alle dinge und menschen für voll und wichtig nimmt, ... wird auch sein ganzes denken und gebaren mit einem ernst, einer leidenschaft, einer verantwortlichkeit erfüllen (1937) Th. Mann ausgew. erz. (1948) 11; gerade am diesseits kann sich eine art des erlebens entzünden, die von eigner glut und innigkeit ist; wenn man die geschichte des protestantismus verfolgt, so wird man finden, dasz in seiner modernen entwicklung immer mehr ein zug von innerlichkeit hervortritt, dem nur wenig anhaftet von dem alten trieb des 'schwing dich über die natur'! wir dürfen von einem neuen stil des religiösen lebens reden, den man als weltverbundene frömmigkeit, als weltfrömmigkeit bezeichnen kann Spranger weltfrömmigkeit (1941) 8; uns heutigen ist diese stimmung der weltfrömmigkeit nicht fremd. wir wissen, dasz das leben selbst heilig ist, nicht nur die jenseitigen bezirke. wir stehen andächtig vor der wiege des neugeborenen kindes ... aber auch auf natureindrücke antworten wir mit innerer bewegung ... wird nicht gerade unsere heutige empfindungsweise — mit ihrer suchenden unbestimmtheit, aber doch gläubigen hingabe — am besten getroffen, wenn wir sie als weltfrömmigkeit bezeichnen, nämlich als ein eigentümlich tiefes band, das uns mit den 'offenbaren geheimnissen' dieser welt verbindet ebda. 9 f.; im einzelnen unterscheidet Spranger drei erscheinungsformen der weltfrömmigkeit: für die weltfrömmigkeit als stimmungsreligion gilt der alte griechische satz: πάντα θεῖα, ἀνθρώπινα πάντα: alles göttlich, menschlich alles! ... für die weltfrömmigkeit als tätigen lebensglauben gibt es keinen schmerz über die brüchigkeit des menschlichen tuns ... die weltfrömmigkeit als wissensdrang befürchtet nicht, an schreckliche geheimnisse zu stoszen ebda. 23. weltfrömmigkeit bezeichnet dann zuweilen auch eine utilitaristische, auf weltlichen nutzen und irdischen erfolg gerichtete frömmigkeit: die mit der prädestinationslehre (des puritanismus) gegebene these, dasz die bewährung des menschen vor gott aus dem sichtbaren irdischen erfolg abzulesen sei, hat zu einer stärkstens vom nutzen getragenen weltfrömmigkeit geführt P. Meiszner in: germ.-roman. monatsschr. 30 (1942) 190.
Fundstelle
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Lfg. 10 (1954), Bd. XIV,I,I (1955), Sp. 1575, Z. 19.

Im ¹DWB stöbern

a b c d e f g h i
j k l m n o p q r
s t u v w x y z -
weithinausreichend welthinaus
Zitationshilfe
„weltfrömmigkeit“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erstbearbeitung (1854–1960), digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/dwb/weltfr%C3%B6mmigkeit>.

Weitere Informationen …


Weitere Informationen zum Deutschen Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (¹DWB)