Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute.

Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (¹DWB)

weltfremd, adj.

weltfremd, adj.
1)
'völlig fremd, wildfremd': endlich auch von auszen ein weltfremder (hier im sinne von 'auszenstehender') selbige probstei erlanget, ohngeacht er kein frater noch membrum des capitels were Joh. Mechtel Limburger chron. 39 Knetsch; sie halten alles so geheim, ... gegen mich, als wenn ich eine weltfremde person waͤre neue sammlung v. schauspielen (1764) 10 Heufeld 61; Antoni ... ist weltfremd, ich weisz nicht, wer er ist, wie er in's haus kommt Göthe I 24, 144 W.; man (die gruppe der schauspieler) sollte fingiren, als ob sie eine gesellschaft weltfremder (sich gegenseitig unbekannter) menschen seien, die so eben auf einem marktschiffe zusammen komme ebda. I 21, 188; da wird mir so ängstlich, als guckten mich eine menge weltfremder menschen an Brentano Godwi (1801) 1, 51; eine dame, die, um ihrer laune und ihrem eigenwillen zu fröhnen, sich wenig um die bequemlichkeit und das vergnügen anderer bekümmert, findet hang an neckereyen; wenn sie schon weltfremde menschen neckt, wie wird es dem armen manne ergehen? Meisl theatr. quodlibet (1820) 4, 101; nun kommen aber fünf- bis sechstausend weltfremde fremdlinge, die alle quartier haben wollen (23. 1. 1812) Görres ges. br. 2 (1874) 280; in neuerem sprachgebrauch nur noch vereinzelt: die elegante dame steckt die zigarette in das rote mündchen und raucht, und ihr kind gibt sie an die brust einer weltfremden person Rosegger schr. III 7 (1906) 133 (sünderglöckel); ich male ein bild mit hirn und herzblut, und dann kommt irgend ein weltfremder kerl und kauft es, und ich und mein volk haben das hinterhersehen H. Löns d. zweite gesicht (1917) 259; sie standen ... vor dem nun von weltfremden ... leuten bewohnten haus E. Strausz d. schleier (1931) 17. gelegentlich auch im sinne von 'völlig andersartig, zu einer fremden welt gehörig, unvertraut' u. dgl.: sodann ... betrachtet er ganz frei gesinnt, mit der heitersten gerechtigkeit und billigkeit weltfremde zustände Göthe I 42, 1, 96 W.; gesetzt, irgend ein wild- und weltfremder karakter existirte als der einzige ohne irgend eine symbolische aehnlichkeit mit andern menschen, so könnt' ihn kein dichter gebrauchen und abzeichnen Jean Paul w. 49-51, 30 Hempel;
eine schimmernde jungfrau ...,
begeistert und stille, weltfremd und vertraut,
...
so fern ihre sprache, so aus der seele ihr laut
Brentano ges. schr. (1852) 6, 67;
die deutsche philosophie hatte kaum durch Kant ihre grosze umwälzung vollbracht und in ihren ersten ausbildungsformen bestand und platz gewonnen, als sie auch, ziemlich revolutionär, anfing, ihre usurpationen über benachbartes und weltfremdes gebiet auszudehnen Grillparzer s. w. 15, 79 Sauer; alles, was da (im berghof) war, geschah und gesprochen wurde — weltfremd mutete es den mann an, der einst stadtmensch ... gewesen Rosegger schr. III 9 (1907) 266 (weltgift).
2)
'lebens-, wirklichkeitsfremd; unvertraut mit den tatsächlichen gegebenheiten, den gefahren, anforderungen oder möglichkeiten der realen welt' (vgl. dän. verdensfremmed ordbog over det danske sprog 26 [1952] 1217); so in verschiedener sinnesfärbung, zumeist als personencharakterisierendes beiwort: mit der arglosigkeit eines weltfremden gelehrten zeigte er (Winckelmann) im gasthofe jenem unbekannten seine schönen zu Wien erhaltenen goldenen medaillon (!) K. J. Weber Deutschland (1827) 2, 380; weltfremde sonderlinge voll unermesslichen ... wissens Justi Winckelmann (1866) 2, 1, 166; Simplicius erwächst weltfremd in der einsamkeit Scherer lit. gesch. ⁷381; gesichtspunkte — ideale! — wer davon anfängt, gilt als unpraktischer, weltfremder schwärmer Polenz Grabenh. 2 (1898) 113; und ihr (brüder) seid die richtigen, ihm (dem verarmten vater) zu helfen! du, ein weltfremder dichter! und der verspielte Lauro! Werfel geschw. v. Neapel (1931) 203; man ... hielt uns für ziemlich weltfremd, dasz wir noch so gar keinen umgang mit diesem 'anderen' (den auslandssendern) gehabt hatten Klemperer l. t. i. (1949) 274; man darf mich, bitte, nicht für weltfremd halten. ich weisz sehr wohl, dasz sehr vieles nicht ausgeführt werden kann, weil die mittel nicht aufzutreiben sind Sauerbruch leben (1951) 256; zuweilen auch sonst, die lebensferne, wirklichkeitsfremde art verschiedenartiger anderer wesenheiten kennzeichnend: beide (mädchen) hatten blaue augen, allein das eine paar blickte klug und siegesgewisz, das andere so weltfremd und träumerisch wie ein deutsches märchen B. Mercator in: Velhagen u. Klasings monatsh. 8 (1893/94) 1, 402ᵃ; Andreas nimmt in seinem weltfremden idealismus dieses angebot nicht an jahrb. d. Grillparzerges. (1890) 8, 221; die tiefe kluft, welche die überfeinerte, weltfremde bildung der gelehrten von der gründlichen roheit der massen trennte, entging seinem blicke nicht Treitschke dt. gesch. (1897) 1, 288; sonderbarkeiten, die ... ein resultat seines (Storms) weltfremden lebens ... waren Fontane ges. w. (1920) II 2, 241; der geborene politiker verachtet die weltfremden betrachtungsweisen des ideologen und ethikers mitten in seiner tatsachenwelt Spengler abendl. (1922) 2, 263; wunderbar, ... wie gerade seine (des deutschen volkes) geistigsten, scheinbar weltfremdesten mächte herbeieilen, um volk und staat zu retten (1923) K. A. v. Müller dt. gesch. u. dt. char. (1926) 40; und es gibt auch das hochgesteckte, aber weltfremde, träumende ideal Nic. Hartmann ethik (²1935) 450; vereinzelt im sinne von 'wirklichkeitsfern, unwirklich': wohin es aber an freien nachmittagen mich am stärksten lockte, was auch noch jetzt mit seinem weltfremden zauber der rauschendste laubwald mir nicht ersetzen kann, das war die heide Storm s. w. 6, 195 Köster.
3)
'der welt entfremdet'; so nur vereinzelt bezeugt: weltfremd ist die seele und seelenlos die welt, wenn sie sich nicht finden in der erkenntnis des unbekannten gottes, wenn der mensch dem wahren gott ausweicht K. Barth Römerbrief (⁵1926) 24; oder wird man im alter so jenseitig und weltfremd? P. Dörfler um d. kommende geschlecht (1932) 189; sachbezogen im sinne von 'weltfeindlich': die ernste, düstere tracht mit ihrer weltfremden farbe, dem trauernden schwarz, liesz das blühende weib um so reiz- und geheimnisvoller erscheinen Burte Wiltfeber (1912) 137.
Fundstelle
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Lfg. 10 (1954), Bd. XIV,I,I (1955), Sp. 1571, Z. 19.

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weithinausreichend welthinaus
Zitationshilfe
„weltfremd“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erstbearbeitung (1854–1960), digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/dwb/weltfremd>.

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