⟨jmd., etw. postuliert etw.⟩
a)
bildungssprachlich fordern, unbedingt verlangen, für notwendig, unabdingbar erklären
Kollokationen:
mit Adverbialbestimmung: etw. ausdrücklich postulieren
mit Akkusativobjekt: ein Recht, eine Pflicht, einen Anspruch postulieren
Beispiele:
»Solange nukleare Bedrohungen bestehen, braucht Europa weiterhin
den nuklearen Schutzschirm der USA unter dem Dach der Nato«,
postuliert die Fraktion. [Süddeutsche Zeitung, 27.01.2021]
Der heilige Augustinus postulierte
[…] zwar das Überleben der Juden als
»Rest Israels«, als Zeugen der Offenbarung bis zum Jüngsten Tag – doch
wie Kain, der Mörder Abels, sollten sie rastlos durch die Welt irren und
dabei doch nicht der Rache verfallen. [Süddeutsche Zeitung, 12.02.2021]
Alexandra Grants textbasierte Malerei rekurriert auf die
poststrukturalistische Philosophin und Feministin Hélène Cixous, die
einen radikal antitotalitären Ansatz verfolgt und das Zeigen und
Verhüllen zugleich postuliert. [Die Welt, 22.08.2020]
Die Vizemeisterschaft wurde als neues Ziel
postuliert. [Die Welt, 19.06.2020]
Man kann die Erniedrigung, die das preußische Pflichtideal
postuliert, und die Depravation, zu der es
notwendig führen muß, nicht verstehen, wenn man seine Entwicklung nicht
kennt. [Ball, Hugo: Preußen und Kant. In: Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka. Berlin: Directmedia Publ. 2000 [1918], S. 9802]
b)
bildungssprachlich etw. (mit dem Anspruch, es sei richtig, wahr) feststellen, behaupten; als wahr, gegeben hinstellen
Kollokationen:
mit Adverbialbestimmung: etw. kühn, unabhängig [voneinander] postulieren
Beispiele:
Dass die Frontier‑Zeit prägend für die amerikanische Denkweise
war, hatte schon 1893 der Historiker Frederick Jackson Turner
postuliert. [Die Welt, 11.09.2020]
Einige Astronomen glauben, dass es sich bei dem am Rand des
Sonnensystems postulierten »Planeten Neun« in
Wahrheit um ein Objekt handelt, das die Sonne einem benachbarten Stern
entrissen und ihrem Schwerkraftbereich einverleibt hat. [Die Welt, 05.09.2020]
Er
[Sigmund Freud] unterscheidet in der von
ihm verfassten Sexualtheorie klitorale und vaginale Sexualität und
postuliert, nur letztere sei die erwachsene
und gesunde. [Süddeutsche Zeitung, 11.07.2020]
Wenn das Tragen von Jogginghosen bedeutet, dass man die Kontrolle
über sein Leben verloren hat, wie es Mode‑Papst Karl Lagerfeld einst
postulierte, dann sind die vergangenen Monate
offenbar ein kollektiver gesellschaftlicher Totalabsturz gewesen. [Süddeutsche Zeitung, 09.07.2020]
Man kann eine solche Umwandlung der Hautempfindung in eine Ton‑
oder Farbenempfindung wohl postulieren, aber man
kann sie schlechterdings nie vorstellen. [Dilthey, Wilhelm: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. In: Philosophie von Platon bis Nietzsche. Berlin: Directmedia Publ. 2000 [1910], S. 58425]
c)
Philosophie etw. zum Postulat machen; etw., ohne es beweisen zu können, vorläufig als wahr, gegeben annehmen
Kollokationen:
mit Akkusativobjekt: die Gleichheit, Existenz, ein Prinzip, den Zusammenhang (von etw.) postulieren
Beispiele:
Auch der Kirchenhistoriker Adolf von Harnack kann in seinem »Wesen des Christentums« Jesus als übergeschichtliche Figur nicht beweisen, sondern nur postulieren, wie Christoph Markschies zeigte[…]. [Süddeutsche Zeitung, 26.05.2008]
Der Übergang vom Prinzip zur politischen Praxis musste auf eine
Hypothese gestützt werden: jene von der natürlichen Tugendhaftigkeit des
Volks, garantiert durch das von Robespierre
postulierte gotthafte »Höchste
Wesen«. [Süddeutsche Zeitung, 04.12.2018]
Doch wie Longuenesse zeigte, postuliert
Kant in seiner Schrift über den »Mutmaßlichen Anfang der
Menschengeschichte« ganz ähnlich wie Freud, dass die Entwicklung der
moralischen Motivation in der Unterdrückung des Geschlechtstriebs
wurzele. [Süddeutsche Zeitung, 20.06.2017]
Ich stelle Schiller als den Sartre des späten achtzehnten
Jahrhunderts dar, der postuliert, dass der Geist
stärker ist als der Körper. [Welt am Sonntag, 13.03.2011]
Entstehen und Vergehen, Bewegung und Veränderung, kurz alles
Werden postuliert ja einen Übergang von nicht
Vorhandenem zu Vorhandenem, von
[dem]
Nichts zu
[dem]
Etwas; wie aber ist das denkbar? [Meyer, Eduard: Geschichte des Altertums. Bd. IV, 1. Berlin: Directmedia Publ. 2001 [1901], S. 20475]